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Liebe Frau Dr. Drazek-Kappus, was hat Sie dazu bewegt, sich mit EchteZeit selbstständig zu machen? Gab es einen konkreten Auslöser?
D-K: Einen konkreten Auslöser gab es nicht. Es war eher ein Prozess, eine Vielzahl an Beobachtungen weckten mein Interesse und machten mich zugleich stutzig: Sowohl im privaten Umfeld, als auch in meiner therapeutischen Tätigkeit fand ich es spannend, welchen Einfluss die mediale Dauerpräsenz auf die Interaktion und Kommunikation sowie die Teilhabe der Individuen untereinander hat.
Im privaten Bereich waren es bspw. die Veränderungen in der Art und Weise wie Verabredungen geplant wurden, die Häufigkeit und die Inhalte von Textnachrichten und die zunehmenden Erwartungshaltungen in Bezug auf eine baldige Antwort bei digitaler Kommunikation.
In der klinischen Arbeit nahm ich wahr, dass sich in Therapiesitzungen das Online-Verhalten meiner Patient*innen widerspiegelte, wie dieses Verhalten das Erleben des Seins in der – nennen wir es – Offline-Welt beeinträchtigte und mit einem Leidensdruck einherging. Stellen Sie sich vor, musikalische Improvisationen in Therapiesitzungen gleichen einer Inszenierung eines Posts bei Instagram. Sprich, die Außendarstellung und Selbstoptimierung werden fokussiert. Zusätzlich entstehen Erwartungshaltungen an die Gruppe oder an die Therapeutin, die in ihrer zeitlichen Gestaltung einer Kommunikation über Social-Media-Kanäle ähneln.
Der digitale Wandel ist also auch dann präsent, wenn Sie Ihren Patient*innen innerhalb der Therapie-Sitzungen analog begegnen. In welcher Weise wirkt er sich Ihrer Einschätzung nach auf die menschliche Psyche aus?
D-K: Ich konnte in den letzten Jahren zunehmend beobachten, dass die digitale Dauerpräsenz, fernab vom diagnostischen Denken, massive Auswirkungen auf die psychischen Störungen bzw. die Gesundheit und den Behandlungsverlauf meiner Patient*innen hat. Hiermit meine ich Veränderungen in ihren Verhaltensweisen und zusätzliche Stressfaktoren, die sie im Alltag belasten.
Vielen Menschen scheint es beispielsweise zunehmend schwer zu fallen, etwas im Augenblick zu assoziieren. Konkret auf das musiktherapeutische Setting bezogen sind dies Musikstücke, die gehört werden könnten. Die Spontaneität solcher Assoziationen weicht immer häufiger einer gründlichen vorherigen Planung. Damit einher geht die wachsende Bedeutung eines sofortigen Feedbacks der Mitpatient*innen: Eine Rückmeldung soll meist unmittelbar erfolgen und scheint wichtiger zu werden, als das eigens Erlebte. Auch werden Tätigkeiten vorrangig als ein Tun an sich beschrieben, mit dem Druck, aktiv sein zu müssen, um etwas über sich berichten zu können. Den eigenen Interessen nachzugehen scheint diesem Verhalten zu weichen. Erschöpfung und subjektiv empfundener Stress sind damit verbundene Empfindungen.
Ich vertrete den Ansatz, dass im therapeutischen Setting immer auch ein Teil der sozialen Realität durchscheint und Einfluss auf Intrapsychisches nimmt. Hier beziehe ich mich auf Erich Fromm: Nach ihm werden die im Individuum wirkenden, krankmachenden Konflikte und Kräfte teils auch durch die Gesellschaft hervorgerufen. Aus meinen Erfahrungen und Beobachtungen können Stress, innerer Druck und Überforderungserleben mitunter die Folge des Omnipräsenzerlebens sein – dem Gefühl, immer erreichbar und verfügbar zu sein bzw. sein zu müssen. Eine Balance für Körper, Geist und Seele zwischen stressigen und entspannten Zeiten aufrechtzuerhalten, scheint für viele Menschen zunehmend erschwert. Diese für mich hochspannenden Auffälligkeiten veranlassten mich dieses Thema näher zu betrachten.
Als eine Reaktion auf Ihre Beobachtungen haben Sie u.a. EchteZeit gegründet. Auf welche Art und Weise möchten Sie Ihren Seminarteilnehmer*innen hier wieder mehr Zugang zur analogen Welt vermitteln?
D-K: Ich möchte meine Teilnehmer*innen darin unterstützen, sich ein neues Bewusstsein für eine Balance zwischen der analogen und digitalen Welt zu schaffen. Wir analysieren daher zunächst gemeinsam, auf welche Weise die Teilnehmenden digitale Medien im Fokus der Omnipräsenz nutzen. Dies passiert im verbalen Austausch in der Gruppe und mithilfe von Skizzenbüchern. Daran anlehnend werden die Parameter Raum, Zeit und Körper näher fokussiert: Ersteres fängt bereits bei dem Ort des Seminares an. Wir kooperierten vor der Pandemie mit Veranstaltungsräumen und Tagungshotels mit puristischer Einrichtung, die wenige akustische und visuelle Reize hatten. Die von uns ausgesuchten Orte boten dadurch günstige Möglichkeiten, die Wahrnehmung ins Hier und Jetzt zu lenken und sich Zeit zu nehmen für einen Moment ohne Bildschirm und Telefon. Neue Impulse und Klarheit für das Selbstmanagement können hierdurch angeregt und entdeckt werden. Wir erarbeiten dabei individuelle Symbole und Hilfen für den Alltag.
Sie hatten Ihre Tätigkeit mit EchteZeit gerade erst begonnen, als die Corona-Krise mit all ihren Folgen Einzug hielt. Wie haben Sie persönlich die Situation erlebt und wie sind Sie in Ihrem Unternehmen, das sehr auf analoges Erleben setzt, damit umgegangen?
D-K: Für meine Kollegin und mich kam der erste Lockdown genauso überraschend wie für alle anderen Menschen auch. Durch das Veranstaltungsverbot mussten wir unsere geplanten Seminare für das ganze Jahr 2020 absagen. Dies beinhaltete auch die Stornierung der Räumlichkeiten. Es folgte eine Phase des Abwartens. Nach vielen Gesprächen mit von uns geschätzten Menschen entschieden wir uns für die Option, unsere bestehenden Angebote neu zu konzipieren. Die größte Herausforderung dabei war, Seminare, die den Fokus auf die Bedeutung von Analogem legen, online anzubieten.
Mit dem Ergebnis sind wir sehr zufrieden. Unsere neuen Formate sind Online-Offline-Seminare. Alle Seminare beginnen mit einem theoretischen Teil und enden mit einem individuellen Reflexionsgespräch. An den anderen Seminartagen erwartet die Teilnehmer*innen je ein kurzer theoretischer Input via Online-Präsentation und darauf bezugnehmende Aufgaben zur praktischen Anwendung. Unsere Seminarmaterialien sind analog und werden zuvor als schönes Paket postalisch an die Teilnehmer*innen versandt. Sie erhalten Tools zum flexiblen Umgang mit eigenen Ressourcen für analoge Zeiten und Räume im Alltag. Damit die Anwendung unmittelbar erfolgt, entscheiden die Teilnehmer*innen individuell, wann und wie lange Sie sich am jeweiligen Tag mit den Tools beschäftigen. Der Input lässt sich so direkt in den (Arbeits-)Alltag integrieren.
Aus den analogen Seminarmaterialen in Paketform entstanden zudem ein InspirationsPaket und das Paket DruckPause. Beide Pakete fokussieren eine analoge Auszeit im digitalen Alltag und regen zum Nach- oder Umdenken an.
Was möchten Sie den Menschen, die ihre Angebote buchen, insbesondere mit auf den Weg geben?
D-K: Das ist eine wichtige und schwierige Frage zugleich. Jeder Mensch ist anders und benötigt daher auch etwas ganz Individuelles. Demnach kann ich gar keine pauschale Antwort geben. Mit den Seminaren, Beratungen und Paketen möchte ich unterstützen, ein Bewusstsein zu schaffen für die Bedeutung medienfreier Zeiten und Räume. Zwischendurch einfach mal abzuschalten ermöglicht Raum für Unvorhersehbares, über dessen Resultat wir keine vollständige Kontrolle haben. Dies als Chance zur Kreation von Neuem zu betrachten und annehmen zu können, erachte ich als wertvoll.
Wie meistern Sie persönlich den Spagat zwischen einer sinnvollen und zeitgemäßen Mediennutzung und einer ständigen Verfügbarkeit in der digitalen Welt?
D-K: Ich nutze gerne Apps, deren technische Funktionen meinen Alltag erleichtern, mich inspirieren, erfreuen oder mein Wissen erweitern. Ich habe mich seit Beginn von Social Media bewusst gegen deren Nutzung entschieden. Mein Handy ist nie im Schlafzimmer und es kommt öfter vor, dass ich es daheim vergesse oder ausschalte. Doch was mich davon abhält ständig verfügbar zu sein, sind meine zeitintensiven Hobbys analoger Natur.
Ganz herzlichen Dank für das Interview, liebe Frau Dr. Drazek-Kappus und weiterhin viel Erfolg mit EchteZeit!
Weitere Informationen:
Dr. Katrin Drazek-Kappus
katrin.drazek@echtezeit.de
www.echtezeit.de
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